Jazz & Komposition

 

Jazz und Komposition

Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung

herausgegeben

von Wolfram Knauer

ISBN 3-923997-41-8

JAZZ & KOMPOSITION

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Daß der Jazz trotz der ihm nachgesagten subversiven Kräfte neben der sogenannten E-Musik mittlerweile "hoffähig" geworden ist, bezeugt die zunehmende Einbindung in das Lehrangebot bundesdeutscher Musikhochschulen mit der Einrichtung selbständiger Jazz-Seminare. Sicherlich verstehen manche Professoren der akademischen Zweige der Musikerausbildung diese Seminare mehr als eine exotische Randerscheinung, der die Theoriefähigkeit abgesprochen wird, und so werden die interdisziplinären Kontakte eher gemieden. Man bleibt fein säuberlich unter sich. Jazz & Komposition erscheint somit zwangsläufig auf den ersten Blick wie ein Widerspruch in sich, wie ein Wortpaar merkwürdiger Unvereinbarkeit, wie zwei Felder mit kleinster gemeinsamer Schnittfläche, bestenfalls anwendbar auf die wenigen Beispiele der Assimilierung des Jazz-Idioms in die sogenannte Kunstmusik, wie etwa in Kreneks Erfolgsoper "Jonny spielt auf", in der Weillschen "Dreigroschen-Oper" oder auch in den vom Jazz inspirierten Klavierkompositionen der 20er Jahre von Satie, Copland und Hindemith, und nicht zuletzt im schon legendären "Ebony-Concerto" von Strawinsky. Jazz & Komposition: eher ein Themenkomplex als Randerscheinung.

Und dennoch: es gilt hier auf eine Buchpublikation aufmerksam zu machen, die gerade diesen Titel trägt: Jazz & Komposition. Sie wurde als Dokumentation des 2. Darmstädter Jazzforums vom dortigen, 1990 gegründeten Jazz-Institut herausgegeben und ist soeben als Band 2 der Darmstädter Beiträge zur Jazz-Forschung im Wolke-Verlag Hofheim erschienen. Komponieren als eine spezifische Art des Denkens in Tönen, das seiner eigenen inneren Logik folgt, Komponieren als bewußtes Setzen und Zusammenfügen von Tönen und Klängen zu in sich geschlossenen Strukturen und Formen ist im allgemeinen abendländischen Musikverständnis eng mit dem Begriff des Werkcharakters verknüpft. Als schriftlich gestaltete und fixierte Klangarchitektur seht der Komposition diametral die Improvisation gegenüber, bei der die spontane musikalische Erfindung und die klangliche Realisierung gleichsam zusammenfallen. Dem Jazz, als geschichtlich noch relativ junger musikalische Artikulationsform, schien seit Anfang an mehr das Feld der vielfältigen Möglichkeiten freier und offener Improvisation zuzufallen. Daß allerdings die klare Grenzziehung zwischen geschlossenem Werkcharakter und offenen Spielformen, daß die fest umrissene Definition des Begriffs Komposition auch für den, dessen geistige Heimat im 20. Jahrhundert mehr die Musik seit Schönberg und Strawinsky ist, ins Wanken geraten ist, zeigt die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte. Wenn wie bei John Cage der Zufall als legitimes Mittel Einfluß nimmt auf die kompositorische Gestalt, wenn wie bei Stockhausen und Boulez die zeitliche Anordnung einzelner kompositorischer Zellen dem Interpreten überlassen wird, wenn gar nur eine graphische Notation die Musiker zu eigenständiger klanglicher Gestaltung anregen soll, bedeutet dies, daß auch in der Neuen Musik der Begriff Komposition weiter gefaßt werden muß, als es das tradierte Musikverständnis seit Klassik und Romantik nahezulegen scheint. Und wenn Bernd Alois Zimmermann - nicht nur in seiner Oper "Die Soldaten" - in Zusammenarbeit mit Manfred Schoof Jazz-Episoden in sein pluralistisches Klangdenken einbezieht, und ein so exponierter Jazz-Musiker wie Anthony Braxton für das Ensemble Modern, dem Elite-Ensemble der Neuen Musik, komponiert, so wird darüber hinaus deutlich, daß es teilweise gegenseitige Einflußnahme von Avantgarde und Jazz gibt, die Grenzen fließend geworden sind. So verwundert auch nicht, daß Braxton und mit ihm andere in ihrem musikalischen Weltbild durchaus Berührungspunkte zu Philosophie und Ästhetik der seriellen und postseriellen Musik empfinden.

Es ist das Verdienst des 2. Darmstädter Jazzforums - und das dokumentieren die 13 Beiträge der Buchpublikation in eindrucksvoller Weise -, Musiker, Wissenschaftler und Journalisten zu einem umfassenderen Gespräch über das Spannungsverhältnis von Komposition & Improvisation zusammengeführt zu haben. Die Vielfalt der Ansatzmöglichkeiten von Kompositionsmodellen im Jazz wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet und dem Leser erschließt sich anhand eingehender Analysen somit ein mehr als nur oberflächliches Bild der lebendigen und sich stets im Fluß befindenden Aspekte der jazz-musikalischen Praxis und Theorie.

J. Bradford Robinson untersucht beispielhaft an rhythmischen Floskeln den Einfluß der typischen Charakteristika des Jazz auf europäische Komponisten und die besondere Jazz-Rezeption der Weimarer Periode. Drei jazz-geschichtliche Beiträge beschäftigen sich mit John Coltranes Improvisationstechnik, die von der afro-amerikanischen Predigt- und Singhaltung bestimmt ist, mit Charles Mingus und seiner Methode auraler Kompositionsvermittlung, und mit den umfangreichen musiktheorethischen Äußerungen Anthony Braxtons. Von der Klangfarben-Erweiterung des traditionellen Jazz-Instrumentariums durch den Einzug der durch die Geschichte vorbelasteten Streichinstrumente berichtet Ulrich Kurth anhand dreier WDR-Produktionen, die dem Bereich des "Third Stream" zuzuordnen sind. Diese Aufsätze machen mich, den mehr Außenstehenden, neugierig auf eine akustische Begegnung mit dieser Musik. Hermann Keller und Dieter Glawischnig berichten aus eigener praktischer Anschauung von ihrer kompositorischen Arbeit, die sich für mich scheinbar reziprok zu der oben genannten Jazz-Assimilierung in die Kunstmusik verhält, werden hier doch Beispiele vorgeführt, die das Form- und Tonvokabular der klassischen bzw. Neuen Musik (12-Ton-Technik) ins Jazz-Gewand kleiden. Es wäre verkehrt und ginge an der Sache vorbei, wollte man die Phänomenologie des Jazz wertend mit der der Kunstmusik vergleichen, denn selbstverständlich funktionieren die Strategien zur Findung von Form- und Klanggestalten und somit zur Komposition - und darum geht es letztendlich im umfassenden Sinne doch in beiden Sparten! - zwangsläufig nicht parallel, was in der jeweiligen Tradition begründet ist. Doch genau dies unternimmt Lutz Neitzert in seinem Beitrag "Über das problematische Verhältnis der bürgerlichen Musikkultur zu improvisierter Musik". Mit einem für mich etwas verqueren & einseitigen, mit polemischen Untertönen gewürzten geschichtlichen Rückblick kommt er zu dem Schluß, der 'imperialistische Habitus' der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft spiegele sich in der 'hocheffizienten Materialbeherschung' der 'pedantischen Schreibtischkomponisten' bei der Herstellung musikalischer Werke im modernen Musikbetrieb. Zwar "reflektiert auch der Jazz", so kanstatiert Neitzert, "das gleiche soziale Umfeld wie die bürgerliche Kunstmusik,...dies jedoch nicht in institutionalisierten Strukturen und geordneten Verhältnissen." Somit erklärt sich für ihn die Ausdrucksintensität, der Nuancenreichtum und die hochentwickelte Kunst der Phrasierung, die den Jazz unmittelbarer verständlich mache als die Musik des klassischen Fachs. In Klammern wird eingestanden - und hier zeigt sich einer seiner voreiligen Kurzschlüsse - "verständlich nicht für Jedermann aber doch zumindest für den Eingeweihten." Also doch: der Hörer - und um den geht es in allen Sparten des Musik-Machens - muß durch Neigung oder Studium mit der Rhetorik und Semantik der jeweiligen Sprache vertraut sein, um ihre Nuancen und ihren Ausdruckswillen erkennen und verstehen zu können. Gleichwohl denke ich - das ist kein Widerspruch - , daß sich jede Musik mitteilt, ohne gleich verstanden zu werden: die suggestive Kraft einer Klavierkomposition von Cecil Taylor kann sich einem eingefleischten Avantgarde-Hörer ebenso unmittelbar mitteilen, wie umgekehrt ein Stockhausensches Klavierstück einen Free-Jazz-Fan elektrisieren kann, ohne daß er die komplexe Textur beim Hören durchschaut. Dieses weite Feld zwischen totaler und minimalster Form von Determination eines Notentextes, die Extreme musikalischer Praxis seit Anfang der 60er Jahre, einer Zeit also, wo der Free Jazz auftauchte und gleichzeitig die Überdetermination der Seriellen Musik umkippte in aleatorische Klangentwürfe und überhaupt eine denkwürdige interdisziplinäre Kohärenz zu beobachten war, wird von Ekkerhard Jost in seinem überaus lesenswerten Vortrag behandelt. Trotz zwangsläufiger und notwendiger Vereinfachung der vielfältigen Dimensionen gelingt ihm eine durchaus zwingende Typologisierung jazzmusikalischer Komposition.

Die abschließenden Anmerkungen Bert Nogliks zum Spannungsfeld von Komposition und Improvisation machen ein erneutes Mal deutlich, daß die Vorstellung, Improvisation sei Akt reiner Spontaneität und Komposition allein langwierige und ausschließlich intellektuelle Arbeit, eine allzu einfache Verkürzung ist, daß eine ausgeklügelte Partitur nicht allein für unverwechselbare Individualität bürgt und daß die angeblich voraussetzungslose Improvisation ein Paradoxon beinhaltet, das dadurch gegeben ist, daß sie oftmals doch nicht ohne einen gewissen Vorrat an Formeln und Modellen des Angeübten auskommt. Kenntnisreich und geistreich werden die Facetten von Affekt und Kalkül ausgelotet, und es entsteht ein sehr differenziertes Bild der grundsätzlichen Problematik, die Thema der gesamten Publikation „Jazz & Komposition” ist.

Die Lektüre kann ich nicht nur denen empfehlen, die ohnehin Insider sind, sondern all denen, die ein waches Interesse an den künstlerischen Artikulationsformen unserer Zeit haben.

Wenn Arnold Schönberg Komponieren als verlangsamte Improvisation sehen konnte, wird damit implizit auch die Kontrolle des Ohres angesprochen, das notwendigerweise letzte Instanz der Entscheidungsprozesse bei der schriftlichen Fixierung ist. Hierin sehe ich eigentlich die essentielle Gemeinsamkeit zum Jazz: nur das klangliche Ergebnis zählt! Die sinnlichen und ästhetischen Reize hängen nicht von der Geschwindigkeit der Gestaltwerdung und den Methoden des Machens ab, sondern von der Rückkopplung über das Ohr.

Also: Hören wir! Hören, hören ... und noch einmal: hören!!!

 

© 1992 Michael Denhoff

 

 

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