... OHNE  ENDE  UND  OHNE  ANFANG...

Einführungsvortrag zum Konzert am 7. Januar 1994,

Redoute, Bonn - Bad Godesberg

 

Denhoff, „Sotto voce” für Streichtrio (UA)

                                   Bach, „Goldberg-Variationen” - Transkription für Streichtrio

 

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Textabschnitt aus „Der Untergeher” (Thomas Bernhard), Seite 221-223

 

Meine Damen und Herren, liebe Musikfreunde,

 

ich hole etwas aus und bin doch gleich bei der Sache: der eben verlesene Textabschnitt stammt aus dem 1983 erschienenen Roman DER UNTERGEHER von Thomas Bernhard. Das Buch ist, ähnlich wie der Film AMADEUS von Milos Forman eine fiktive Künstlerbiographie; fiktiv insofern, als nicht die musikgeschichtlich genaue Darstellung von Fakten im Vordergrund steht, sondern vielmehr ein grundsätzliches künstlerische Phänomen anhand einer zweifellos außergewöhnlichen Figur (Mozart bei Forman, Glenn Gould bei Bernhard) künstlerisch behandelt und dargestellt wird. Großartig sind der Film und das Buch nicht, weil sie ein neues Licht auf Mozart oder Glenn Gould werfen - diese sind nur Aufhänger und durchaus austauschbar - , sondern weil das eigentliche Thema in beiden Fällen das Scheitern eines Begabten im Angesicht des Genies ist und in eindringliche Bilder gebracht wird.

Bei Bernhard ist dieser Scheiternde Wertheimer, der mit dem Ich-Erzähler und Glenn Gould 1953 einen Klavierkurs bei Horowitz in Salzburg besuchte. (Dieser Kurs hat natürlich tatsächlich nie stattgefunden!). Ich denke, in seiner Art ist dieser Roman von Bernhard eine seltsame und gleichzeitig fesselnde literarische Hommage an Gould geworden und ich könnte mir denken, daß es manchem Leser so gegangen ist wie mir: kaum hatte ich das Buch ausgelesen, bin ich in den nächsten Schallplattenladen gegangen und habe mir die Aufnahme der Goldbergvariationen von Glenn Gould gekauft, um sie zu Hause sofort abzuhören. Seit diesem Zeitpunkt (1983) sind für mich die Goldbergvariationen untrennbar mit dem Namen Glenn Gould verbunden und umgekehrt Glenn Gould mit den Bachschen Goldbergvariationen, die ich zwar vorher schon flüchtig kannte, die aber erst unter den Händen von Gould ihre unentrinnbare Faszination auf mich - und das bis heute - entfalten konnten.

Und wenn ich Ihnen heute Abend ein paar Worte sowohl zu meinem Stück als auch zu den Goldbergvariationen sagen soll, so komme ich nicht umhin, dabei auch an Gould zu denken. Neben meiner persönlichen Beziehung zu „Goulds Goldbergvariationen”, die auch ganz entscheidend bei der Entstehung meines Stückes „Sotto voce” war - davon später -  gibt es bei der heutigen Programmkonzeption  noch einen weiteren Grund, den Namen Gould zu erwähnen: die Streichtrio-Fassung der Goldbergvariationen von Dimitry Sitkovetzky, die Sie nachher hören werden, ist vom Bearbeiter dem Andenken Glenn Goulds gewidmet!

 

Wenden wir uns also nun diesem Hauptwerk des heutigen Abends etwas eingehender zu.

Geradezu wie ein eratischer Monolith ragen die Goldbergvariationen aus der Literatur für Tasteninstrumente heraus und auch in Bachs Werk nehmen sie gewiss eine Sonderstellung ein. Für den unvorbereiteten Hörer mag der erste Eindruck verwirrend sein, scheint doch die formale Anlage mit ihrer üppigen Vegitation der klanglichen Gestalten Regeln zu unterliegen, die sich nicht mit dem in Einklang bringen lassen, was man allgemein bei Variationen assoziiert.

Für Bach hat ganz offensichtlich die Form der Variation keine sonderliche Bedeutung gehabt - es gibt nur ein anderes schlichtes Stück in

„italienischer Manier” -; umso mehr muß die nicht nur zeitliche Größe erstaunen, mit der die Goldbergvariationen nie zuvor erreichte musikalische Dimensionen entfalten und sie als ein ganz außergewöhnliches Meisterwerk der Variationskunst ausweisen.

Über die Entstehung wissen wir nur das, was die romantischen Biographen überliefert haben. Der Wahrheitsgehalt läßt sich anhand der Dokumente aus Bachs Zeit nur schwer belegen wie widerlegen.  Als Bach 1742 die Goldbergvariationen als Teil IV der Clavierübungen  „bestehend in einer Aria mit verschiedenen Veraenderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen, denen Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung verfertigt” bei Balthasar Schmidt in Nürnberg veröffentlichte, hatte er den Titel eines königlich-polnischen und kurfürstlich-sächsischen Hofkomponisten.

Der russische Gesandte am sächsischen Hof, ein gewisser Graf Keyserlingk, soll Bach den Auftrag gegeben haben, für den in dessen Dienst stehenden Musiker Johann Gottlieb Goldberg, der zudem wohl einer der begabtesten Schüler Bachs gewesen sein muß, ein paar Stücke zu schreiben. Der Graf litt oftmals an Schlaflosigkeit und da Goldberg im Hause wohnte, mußte dieser in solchen Zeiten in einem Nebenzimmer die Nacht zubringen und ihm die Zeit mit Klavierspielen vertreiben. So wünschte er sich von Bach eine Musik, „die so sanften und etwas muntern Charakters wäre, daß er dadurch in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte.” (Forkel)

Daß Bach dem Wunsch des Grafen nach einer Art „musikalischem Schlafmittel” nicht ganz entsprechend erfüllt hat, läßt sich unschwer an der komplexen kompositorischen Textur ablesen. Glenn Gould merkt in dem ihm eigenen Humor zu der beabsichtigten Funktion der Musik an: „wenn die Behandlung ein Erfolg war, so läßt uns das in einem gewissen Zweifel zurück, was die Authentizität der Wiedergabe dieser scharfen und prickelnden Partitur durch Meister Goldberg angeht.”

Doch verlassen wir das Feld der spekulativ anekdotischen Darstellung der Entstehungsgeschichte und kehren zurück zur Musik!

Ab Mitte der 40er Jahr entstanden die Kompositionen Bachs, die man als  sein Spätwerk bezeichnet, darunter das „Musikalische Opfer” und die „Kunst der Fuge”. Spätwerk meint hier weniger die Bedeutung eines Alterswerkes oder gar letzter Worte - dies will nicht so recht zum Bild Bachs als vielfältig beschäftigtem Kantor, Organisten und Lehrer passen -, vielmehr charakterisiert es eine neue Haltung der Musik gegenüber. Nachdem Bach die für die Ausübung seines Berufs benötigte Musik geschaffen hat, findet er nun Zeit, sich mit den Dingen zu beschäftigen, die die Musik als „ars”, als gelehrte Kunstfertigkeit kompositorisch ergründen und somit zu zeigen, daß er nicht nur ein überragender und überraschender Organist, ein angesehener Kapellmeister und Kantor ist, sondern auch ein gelehrter „Musicus”, der sich sehr wohl auch in der Philosophie und der Mathematik, d.h. in der „Musica speculativa” umgesehen hatte.

Die Goldbergvariationen eröffnen gleichsam das Spätwerk. Die den kunstvollen Aufriß der Gesamtanlage durchziehende Reihe der Kanons  sind Beleg der Gelehrtheit und sie mag auch darauf hindeuten, daß der Empfänger nicht nur Liebhaber, sondern auch ein Kenner der Musik war. Die Kanontechnik war von Gioseffo Zarlini, dem großen Musikgelehrten und Theoretiker des 16. Jahrhunderts im Rahmen seiner Kontrapunktlehre als eine nicht so geläufige Kompositionsart beschrieben worden. „Doch wenn sich jemand übt, auf diese Weise zu komponieren, so wird er zweifellos in kurzer Zeit ein guter Musicus (also sachkundiger Komponist) werden.” Im 17. Jahrhundert wurde die Kanontechnik mehr und mehr zum „Probierstein der harmonischen Geschicklichkeit” (Friedrich Wilhelm Marpurg in den Abhandlungen von der Fuge 1753). Zugleich galt der Kanon als Abbild der unaufhörlichen - „sind fine” - erklingenden himmlischen Liturgie des Sanctus.

Doch bevor wir uns mit der Gesamtanlage der Goldbergvariationen beschäftigen wollen, zunächst ein Blick auf die den Rahmen  für 30 Veränderungen gebende Aria. Sie ist nicht, wie man es bei Variationen gewohnt ist, das Thema, das in seiner schlichten melodischen Gestalt das Material enthält, das dann in Folge immer weitschweifenderen Veränderungen unterzogen wird. Die Aria ist vielmehr die erste, noch vor dem Beginn der kontinuierlichen Entfaltung der Variationstechnik stehende Darstellung der Baßlinie, die übrigens der Sarabande aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach entspricht. Diese Baßlinie,  eine viermal 8-taktige Passacaglia, ist der eigentliche rote Faden durch das 30-teilige Netzwerk der Veränderungen. Die reich verzierte Sopranlinie ist keine „einfältige” Melodie, sondern eine kunstvolle und selbständige Komposition, die den Rang des ganzen Werkes anzeigt.

In den motivischen Gestalten der folgenden Variationen hinterläßt sie keine Spuren und doch verhält sie sich geradezu spiegelbildlich zum Ganzen. Dies nicht nur allein, weil die 32 Takte der Aria ihre Entsprechung in den 32 Stücken des Gesamtwerkes finden (30 Veränderungen und zweimal die umklammernde Aria), sondern auch, weil Bach im Rahmen des einen Stückes das Prinzip des Ganzen, das Variieren über einen gegebenen Baß exemplarisch darstellt und durchführt.

Die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Aria zu den ihr folgenden Variationen zeigt sich vehement gleich beim Eintritt der 1. Variation, die in ihrem jähen Kontrast zur entlegenen Ruhe der Aria die üblichen Abhängigkeiten vom Thema zu widerlegen scheint: nicht behutsame Ausschmückung der Melodie, sondern dialektischer Gegensatz, der auch für den weiteren Verlauf bestimmend wird. Die Variation 2 im freien Inventionsstil zeigt die ausgewogene Mischung aus heiterer Gelassenheit und zwingender Beherrschung. Mit Variation 3 hebt dann die oben schon erwähnte Folge der Kanons an, die jeweils jeden weiteren dritten Abschnitt des Werkes einnehmen, und die vom Kanon im Unisono schrittweise über den Kanon in der Sekunde, der Terz, usw. bis hin zum Kanon in der None und schließlich als Zielpunkt in der letzten Variation zu einem Quodlibet über damals gängige Gassenhauer führt. Hiermit wird nun das übergeordnete architektonische Bauprinzip der Gesamtanlage deutlich: sie gliedert sich in zehn Gruppen von jeweils drei Stücken. Dabei stellt - allgemein gesprochen - das erste einen bestimmten Satztypus dar, im zweiten entfalten sich virtuose Figurationen und das dritte ist der Kanon. Über diese Dreiergruppen legt sich eine Zweiteilung des Gesamtwerkes: die Variation 16, eine Ouverture markiert die Mitte. Die Zweiteilung kommt darüber hinaus auch in der wechselseitigen Beziehung einzelner Variationen zueinander zum Ausdruck: so entsprechen sich Variation 10 und 22, ebenso die Variationen13 und 25, deren reich verzierte melodische Linie sich über die gleichgestaltete Begleitung erhebt. Ferner sind Terz- und Sextkanon strukturell aufeinander bezogen, es besteht nahezu das Verhältnis eines Stimmtausches. Weiter Beziehungen lassen sich zwischen den Variationen 4 und 19 und den beiden Suitensätzen Gigue (Variation 7) und Sarabande (Variationen 26) ausmachen.

Untersucht man nun den eigentlichen roten Faden der Gesamtanlage, nämlich die Baßlinie, die „mit der unumstößlichen Sicherheit ihrer eigenen Unausweichlichkeit” (Gould) die Kette der Variationen zusammenhält, so ist  interessant, mit welcher rhythmischen wie harmonischen Flexibilität diese Baßlinie auf die Eventualitäten der diversen kontrapunktischen Strukturen reagiert. Das, was generell zu beobachten ist, daß nämlich die Abweichungen von der Klangfolge im ersten Teil häufiger und weitgehender sind als im zweiten Teil und zum Schluß ganz ausbleiben, läßt sich exemplarisch auch an den drei Moll-Variationen (15, 21 und 25) ausmachen. Läßt man die übliche Chromatisierung zur Ausdruckssteigerung in Moll unberücksichtigt, so zeigt sich, daß die erste Moll-Variation das harmonische Terrain am weitesten verläßt, die zweite geringere Abweichungen ausweist und die dritte wieder auf der Originalfolge der Baßlinie steht. Die harmonischen Verhältnisse als eigenständige Größe, verhalten sich also umgekehrt zur Entfaltung der Satzstrukturen, sie komplizieren sich nicht.

Die dritte Moll-Variation nimmt eine besondere Stellung im Gesamtwerk ein. Die Ausdruckskraft dieser wehmütigen, schwermütigen Melodie übersteigt bei weitem das Maß einer einzelnen Variation. Sie wird mit ihrer ausufernden Expressivität zum heimlichen Zentrum des Ganzen. Dennoch ist Ausdruck hier weniger eine subjektive, sondern vielmehr eine objektive Kategorie, gleichsam als experimentelle Erforschung der im gegebenen Rahmen möglichen expressiven Formeln wie Chromatik und übermäßige Schritte. Kalkül und Emotion stehen hier in meisterhafter Balance zueinander! Glenn Gould nannte diese Variation einen „psychologischen Meisterstrich”.

Es ist unmöglich, alle Aspekte der Goldbergvariationen erschöpfend darzustellen, es würde den Rahmen dieser Einführung ohnehin sprengen. Trotz der hier im Ansatz aufgezeigten Details bliebe auch bei eingehendster Untersuchung ein nicht unerhebliches Restgeheimnis schöpferischer Arbeit bestehen, das uns als Hörer immer wieder bewegt und in Erstaunen versetzt.

Die Faszination, die auch für nachfolgende Komponisten von den Goldbergvariationen ausging, läßt sich an den Einflüssen auf spätere Variationswerke ablesen. Daß Beethovens Diabelli-Variationen in ihrer Konzeption in gewisser geistiger Nähe zu Bachs Variationswerk stehen, ist wohl mehr als nur eine Spekulation. Deutlich sind die „Goldberg-Spuren” im letzten Satz der Klaviersonate op. 109 zu beobachten.

Ohrenfällig ist auch die verblüffende Ähnlichkeit des gestischen Ansatzes bei der ersten Händel-Variation op. 24 von Brahms zu der ersten Goldbergvariation. Die Wertschätzung des Werkes durch Brahms zeigt sich auch daran, daß er die Goldbergvariationen öffentlich spielte und in einem Brief an Schubrig aus dem Jahre 1869 heißt es unter Hinweis auf die Goldbergvariationen: „bei einem Thema zu Variationen bedeutet mir eigentlich, fast, beinahe nur der Baß etwas. Aber dieser ist mir heilig, er ist der feste Grund, auf dem ich dann meine Geschichten baue.”

Doch das aufschlußreiche Unterfangen einer vergleichenden Analyse von Querbezügen muß hier aus Zeitgründen unterbleiben.

Unerwähnt bleiben sollen aber nicht die Versuche der Bearbeitungen der Goldbergvariationen, so die 1883 erschienene Fassung für zwei Klaviere von Joseph Reinberger und die 1914 veröffentlichte von Ferruccio Busoni. Zwar wird  der grundsätzliche Bauplan bei Rheinberger nicht angetastet, dafür ist der Klangsatz allerdings zum Teil erheblich verändert und angereichert. Busoni praktiziert eine radikale Kürzung, so fallen bis auf zwei alle die Form bestimmenden Kanonvariationen fort. Auch die Ouverture als architektonische Mitte wird geopfert.  Die verbleibenden Variationen faßt er zu drei, in sich verknüpften Gruppen zusammen.

Die Transkription für Streichtrio des Geigers Dimitry Sitkovetzky, die Sie gleich hören, hält sich dagegen sehr genau und gründlich an die Originalvorlage. Bei der Aufteilung auf drei Stimmen behält sie selbst Stimmkreuzungen auf den Manualen bei. Aus Registergründen werden manche nur zweistimmigen Variationen geschickt auf drei Spieler verteilt, wo dies nicht notwendig ist, bleiben diese ein Duo, so bei der Variation 17 (für Viola und Violoncello) und bei der Variation 27 (für Violine und Viola). Wie bei Bach gibt es keine dynamischen Angaben und auch die Artikulationsvorschriften sind sehr sparsam verwendet. Als quasi- Lautenzug-Register wird in der Variation 19 Pizzicato-Spiel genutzt. Nur einmal, in der Variation 20, verläßt Sitkovetzky die Stimmlage und damit gleichzeitig auch die strukturelle Textur: die nachschlagende mit 16tel-Pausen durchsetzte Gegenbewegung der Oberstimme zum Baß wird hier nach oben oktaviert und in eine durchgehende 16tel-Figur mit Repetitionstönen verändert. Dieser Eingriff erklärt sich aber durch spieltechnische, Streicherensemble-bedingte Gründe.

Die Umschreibung von einem Tasteninstrument in einen Streicherklang bedingt zwar eine andere - möglicherweise auch emotionalere - Farbe, dennoch bleibt das Wesentliche unangetastet und läßt somit trotzdem alle Tiefen der harmonischen und kontrapunktischen Klanglichkeit der Goldbergvariationen im Ursprünglichen erscheinen.

Von dieser Musik, die in ihrer Gesamtanlage nicht gradlinig, sondern kreisförmig angeordnet ist, sagte Glenn Gould in dem oben schon einmal zitierten, 1956 geschriebenen Aufsatz: „Es ist, kurz gesagt, Musik, die weder Ende noch Anfang achtet, Musik ohne wirklichen Höhepunkt und ohne wirkliche Auflösung, Musik, die, wie die Liebenden Baudelaires, ’sanft ruht auf des ungebundenen Windes  Schwingen’”.

 

Mit diesem wunderbaren poetischen Bild, das sich meines Erachtens auch in der pianistischen Ausdeutung der Goldbergvariationen durch Glenn Gould so eindringlich widerspiegelt, komme ich zu meinem Stück.

Ich glaube, diese Worte lassen sich ebenso auf die Klanggestalten von „Sotto voce” anwenden, und mir scheint nicht nur damit die heutige Programm-Konstellation besonders zwingend zu sein und für mich ein besonderer Glücksfall. Auch mein Stück ist eine Streichtrio-Bearbeitung eines zunächst originalen Klavierstückes, das, 1987 geschrieben, den abendfüllenden Zyklus der MONOLOGE I-V eröffnet.

Als Christian Brunnert, der Cellist des heutigen Abends, mich Anfang 1992 anrief mit der Frage, ob ich mir vorstellen könnte, ein Streichtrio zu schreiben, das in irgendeiner Weise Bezug nimmt zu den Goldbergvariationen, und er mir bei der Gelegenheit von der Sitkovetzky- Bearbeitung erzählte, die ich noch nicht kannte, kam mir ziemlich spontan der Gedanke, mein Klavierstück „Sotto voce” ebenso in ein Streichtrio umzuarbeiten. Dies bot sich nicht nur wegen meiner Bezugnahme zur 25. Goldbergvariation und der gleichzeitigen zu Glenn Gould im Klavierstück „Sotto Voce” an, sondern auch die, wie bei Bach, überwiegende Dreistimmigkeit der musikalischen Textur legte diesen Gedanken nahe.

Zwar sind die kompositorischen Eingriffe bei dieser Neuformulierung in einen Streicherklang mehr als über-setzende Instrumentation und damit gravierender als bei der Sitkovetzky-Bearbeitung der Goldbergvariationen, sie führen zu einer größeren Eigenständigkeit beider Fassungen von „Sotto voce”, dennoch gilt auch hier: das Wesentliche, die inhaltliche Eigenart des Stückes bleibt unberührt.

Was hat es nun mit dem Goldberg-Bezug in „Sotto voce” auf sich? Hierzu muß ich ein wenig ausholen.

1986 - 87 hatte ich das Glück, für ein Jahr als Stipendiat Gast in der römischen Villa Massimo zu sein. Die wesentliche Hauptarbeit galt einem großen Oratorium. Als dies gut zur Hälfte entworfen war, glaubte ich, diese Arbeit unterbrechen zu müssen, um neue Kräfte für den Schluß zu sammeln. Geradezu als Gegenentwurf zu der dunklen Klangwelt des großen Apparates im Oratorium „Traumbuch eines Gefangenen” begann ich mit ersten Skizzen zu einem umfangreicher konzipierten Klavierstück. In meinem Studio stand ein alternder Blüthner-Flügel, und so konnte ich mich tastend - im doppelten Sinn - der noch vagen inneren Klangwelt, der noch zu schreibenden Musik nähern. Es ging recht zögerlich voran, immer wieder unterbrach ich die Arbeit und fingerte mir zum Zeitvertreib, wie auch in der übrigen „römischen” Zeit (von der ich endlich einmal genug hatte!) mit meinen bescheidenen pianistischen Fähigkeiten die Stücke durch, die ich mir für das Jahr in Rom als nochmalige Studienobjekte ins Reisegepäck gesteckt hatte. Daß darunter auch die Goldbergvariationen waren, werden Sie nun schon - und mit Recht - vermuten; natürlich hatte ich mir auch die Glenn Gould Aufnahme mitgenommen. -

Es gibt diesen Augenblick während der Arbeit, wo man feststellt, daß das bisher Notierte nicht entwicklungsfähig ist und man sich nur festfährt, wollte man den Weitergang erzwingen. Genau dies geschah mir mit meinen Entwürfen zu dem Klavierstück. Aber diese einerseits schmerzliche Erkenntnis war gepaart mit einer mich überraschenden Beobachtung: ohne daß dies in irgendeiner Weise bewußt angelegt war, stellte ich plötzlich fest, daß da in diesem ersten stillen Anfang Klänge auftauchten, die wie aus der 25. Goldbergvariation herübergeweht schienen. Hier hatte wohl gewirkt, was man als das musikalische Unterbewußtsein bezeichnen könnte. Auch wegen ihrer geringeren technischen Anforderung hatte ich mir diese Variation häufiger gespielt und ich konnte mir nur damit dies unerwartete Auftauchen erklären.

Das, was zunächst spontan und unbewußt passiert war, konnte nun zu einer neuen Idee reifen.

So beginnt das Stück nun mit sieben Fragmenten aus dieser mich wegen ihrer melodischen wie harmonischen Kühnheit so bewegenden Moll-Variation; herausgelöst aus ihrem ursprünglichen Umfeld, und in der Langsamkeit der Glenn Gouldschen Interpretation (Achtel = MM 36) vorgetragen, entfalten diese Fragmente eine merkwürdige Atmosphäre zeitentbundener Klanglichkeit, die hinüberwirkt in das Folgende, das von diesen Fragmenten abgeleitet wird. Dieser erste Abschnitt mit den Bach-Fragmenten bildet die kompositorische Keimzelle des Ganzen, wird also im übertragenden Sinne zum Thema der Musik. Im zweiten, siebenteiligen Abschnitt entfalten diese Fragmente nacheinander ihre eigene Klangwelt durch kompositorische Ableitungen und Veränderungen. Der dritte, umfangreichste Abschnitt beginnt nun in Etappen diese im zweiten Abschnitt entfalteten Gesten und Klanggestalten nach und nach, von hinten nach vorn erschließend, erneut zu verwandeln. Bei der zeitlichen Ausdehnung des sich verändernden Erinnerns wird freier als zuvor verfahren. Und in der verknüpfenden Form dieser gleichsam sich vergrößernden Kreisbahnen verschmelzen die zunächst separat exponierten Bausteine zu einem neuen Ganzen.

Die durchwegs sehr stille Musik hat, wie Glenn Gould auf Bachs Goldbergvariationen bezogen sagt, eigentlich keinen „wirklichen Höhepunkt” und keine „wirkliche Auflösung”; ohne eigentlichen Anfang und ohne eigentliches Ende ist sie ein fernes Echo der Bachschen Goldbergvariationen und, damit verknüpft, eine heimliche Hommage an den Musiker, der mir wie kein anderer, die Musik Bachs wieder nahegebracht hat.

Geschrieben habe ich das Stück für einen Klavier-spielenden Maler & Freund, der zwei Studios neben mir in Rom seiner Arbeit nachging und mit dem ich zusammen lange Abende an den Lautsprechern dem Gouldschen Klavierspiel gelauscht habe, da uns die Begeisterung für einen der ungewöhnlichsten Musiker unseres Jahrhunderts eint.

 

Ihnen wünsche ich nun einen ebenso anregenden wie aufregenden Konzertabend.      

  

 

© 1994 Michael Denhoff

 

           

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