Notarium Romanum (1986/87)

(Auszug)

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8. 10.

heute mit den ersten Entwürfen für Nr. VI (aus: ATEMWENDE) begonnen –

die Quinte als Hauptintervall wird ständig gegenwärtig sein, die gesamte harmonische & formale Struktur bestimmen: die Quinte ‚a – e’ als Zeichen / Symbol für Wahrheit –

17. 10.

ich möchte in Klangbereiche vorstoßen, die in den vorherigen Stücken noch nicht beschritten sind: ...Einfachheit / Schlichtheit ... Gesang / Schönheit ... lichtgetönt –

24.10.

habe ich „jenseits der Menschen“ gesungen? –

ATEMWENDE ist abgeschlossen –

26. 10.

der vorgewusste Hammerschlag vermochte heute nicht meinen Hauptnerv zu treffen (6. Mahler mit Sinopoli / S. Cecilia gehört) –

akustische Reize überdecken bei mir die optischen –

ich lasse mich forttragen vom dumpfen Bogenvibrato dreier Gamben zum traurigen Gesang eines Kontratenors –

4. 11.

werde ich das Fis-Dur-Andante von Vinteuil nachschreiben können? –

meine Finger suchen vergeblich auf der Klaviatur die „Nationalhymne“ einer Liebe –

5. 11.

Alexis Weissenberg, der beste Lochstreifenpianist, sagt Giso Westing, und wir hören Glenn Gould –

6. 11.

die üblichen Zweifel an der Richtigkeit / Notwendigkeit gedachter, vorgehörter Noten- und Klangverbindungen; die Skrupel, dem Notenpapier seine weiße Unbeflecktheit zu nehmen –

Kontrapunkt auf die unüberbietbare Spitze getrieben: die Dichte und besessene Komplexität der „Großen Fuge“ durchzuckt bei jedem Hören (und Lesen!) erneut alle Fasern meines Nervensytems –

7. 11.

Wahn und Trauer im Entzücken über Glück und Schlichtheit als Keim mit einschreiben: une petite phrase

8. 11.

mir kommt der widersinnige Tod Anton Weberns in den Sinn –

10. 11.

akustisches Stilleben: das leise Rauschen der Heizung wird durch ferne Autohupen rhythmisiert, dazu das nachts gedämpfte An- und Abschwellen der diese (meine) Abendidylle überfliegenden Düsentriebwerke, und jede Viertelstunde die Kirchenglocke –

11. 11.

jede Note ist die erste, die ich schreibe –

mit den Resten meiner versunkenen Klänge verbringe ich den Morgen –

12. 11.

Bach: der Galiläi der Musik, Einstein: der Beethoven der Physik (oder: Galiläi: der Bach der Physik, Beethoven: der Einstein der Musik?) ... und Mozart? ... und Schubert? ... und ... ??? –

15. 11.

Klangbild mit Klavierstimmer: eine Autohupe reibt sich im Vierteltonabstand zum gehämmerten ‚cis’, das Quietschen des Schreibtischstuhls erklingt obertönig zur Quinte ‚g – d’, das Fluggeräusch einer surrenden Propellermaschine sinkt im Glissando in die Oktave des tiefen ‚fis’ –

17. 11.

fünfundsechzig Takte als Ergebnis langen Suchens –

mit H. über B. reden ist, wie einer Katze erklären, warum man Hunde liebt –

20. 11.

die schon beschriebenen Notenpapiere liegen wie eine Herausforderung und Ermahnung auf meinem Schreibtisch –

21. 11.

ich denke an Alban Berg, der lieber eine Partitur noch einmal abschrieb, als die Qual des Komponierens ertragen zu müssen –

das Er-leben von Zeit unterscheidet sich vom Be-greifen des Raumes –

Einseitigkeit des Denkens als Krankheitsbild des Unvermögens? –

28. 11.

das Erstellen der Reinschrift ist die angenehmste Seite des Komponierens –

Pistazien-Knacken als akustische Demonstration von Desinteresse –

30. 11.

Feilschen um den Preis war nicht möglich: Louis Armstrong auf Schellack kostet 10.000 Lire –

auch durch den Graufilter einer wenig inspirierten Interpretation vernehme ich die Stimme Gustav Mahlers –

2. 12.

wie klingen ungeschickte Finger auf einem verstimmten Klavier, die Proportionen der Seele verwandelnd? –

Musik teilt sich mit, auch wenn sie nicht verstanden wird (frei nach T. S. Eliot) –

kein Meditationsgefasel, kein selbstgefälliger Verinnerlichungstrip, keine Reduktion aus Unfähigkeit oder apathischer Resignation: Nonos Streichquartett hat in seiner Radikalität Maßstäbe gesetzt! –

4. 12.

beim Bandrauschen, das das elektronische Stück ankündigt, fühle ich regelrecht den Staub der gealterten Avantgarde durch die riesigen Lautsprechertürme aufgewirbelt –

6. 12.

la mia lingua è la musica ... das Klavier als Rettung … -

8. 12.

im Vorbeigehen höre ich Brahms’ zweites Streichsextett aus Studio 5 –

9. 12.

die vereinfachende Beschreibung als Minimal Music greift hier nicht mehr, in dieser stets untersten dynamischen Stufe verfängt sich kein Hörer, der seine Sinne lediglich mit stumpfen Repetitionsfloskeln zu hypnotisieren sucht (2. Streichquartett von Morton Feldman gehört) –

14.12.

Regenmusik: im kompliziert rhythmischen Verhältnis von 8 : 3 fallen vor meinem Küchenfenster Tropfen aus zwei undichten Stellen der Dachrinne –

17. 12.

es bleibt schwierig, die innere Klangvorstellung auf dem Notenpapier zu fixieren; vielleicht ist ohnehin nur ein Näherungswert erreichbar –

das Rauschen der Heizung ist zum penetranten Pfeifen auf dem viergestrichenen ‚a’ mit gelegentlicher Wechselnote ‚b’ geworden –

4. 1.

nur wenn musikalisches Insistieren die damit aufgestaute Energie auf den Hörer zu übertragen vermag, ist dies nicht nur triviale Zeitausschmückung; auch daran erkennt man den Unterschied zwischen Kleinmeisterei und wirklich genialer Größe –

10. 1.

nichts Neues, ich schleiche um die psychologische Hürde des ersten Anfangs –

zwischen die 30 leeren Systeme starrend versuche ich meine Konzentration zu bündeln –

11. 1.

Invention über einen Akkord: das chromatische Total aller zwölf Töne in einen überdimensionierten Schreckensklang addieren, der aber trotz seiner Dichte nicht schmuddelt, sondern durch die intervallische Binnenstruktur und Registrierung seine schmerzlich schneidende Kraft bekommt –

und plötzlich bin ich mitten in der Arbeit –

12. 1.

ad ogni moda è fuori moda scrivere musica all’ultima moda –

13. 1.

abends Augenflimmern durch angespannte Konzentration –

17. 1.

der ratsuchende Blick in meine alten Partituren verstellt mir die Sicht für Neues –

ich tröste mich mit KV 563 –

19. 1.

Gitterklänge gefunden –

23. 1.

die sffz-Schläge des Kontra-Cis beulen den Ton in ein überkippendes Heulen: R. B. erprobt beim „Irrlichternden Hammer“ die Grenzen des kleinen Steinway-Flügels –

2. 2.

heute scheppernde Klavier-Baß-Saiten im Festsaal der Uni

6. 2.

merkwürdig gehäuftes Pianisten-Pech: heute ‚Vibraphon’-Klavier –

15. 2.

das ‚cis’ hält meine inneren Gehörgänge besetzt –

16. 2.

ich entferne mich tastend vom ‚cis’ –

18. 2.

mein „Orakelspruch“: subjektiv keine Programm-Musik, objektiv keine absolute Musik –

19. 2.

so verstehe ich Klangrede: ich habe selten eine aufregendere und fesselndere Aufführung der vierten Schumann-Symphonie gehört (Celibidache & Münchner Philharmoniker) –

21. 2.

ich sitze über meinen Spiegelklängen –

Instrumentation heißt, einen musikalischen Gedanken schärfen und ihn modulieren –

25. 2.

Kunst kommt nicht nur von Können, sondern auch von Müssen; Müssen ist nicht Zwang, sondern Utopie –

26. 2.

es wird einige Arbeit machen, meinen rudimentären Skizzen zu Form & Gestalt zu verhelfen (wie z. B. den „Escher-Effekt“ – ein auf der Stelle tretendes Aufsteigen im Baßregister – zu einer eindrucksvollen unendlichen Klangschraube (traumatisch!) instrumentieren?) –

Tradition ist nicht „Schlamperei“ (die oft zitiert und missverstandene Äußerung Gustav Mahlers), sondern Musik gewordene Verantwortung –

1. 3.

der „Bolero“ von Ravel: die wohl beste Minimal Music, die je geschrieben wurde! –

die Partiturseiten schwärzen sich nur sehr zähflüssig -

2. 3.

Ziel & Schlußstrich nach anstrengender Kopfarbeit; der Doppelstrich zieht sich besonders leicht –

6. 3.

der Straßenlärm zerstört immer wieder die Konzentration für dynamische Schattierungen im extremen Hörbereich, aber E. ist dem jenseitigen Singen schon auf der Spur –

Bar-Belcanto kurz vor Mitternacht mit Capuccino-Duft und Zigarettenrauch –

7. 3.

für (nicht gegen) Chor schreiben! –

8. 3.

ich hämmere mir rauschhaft am Klavier die Chorklänge immer wieder ins Hirn (Janáček-Fieber) –

15. 3.

die Nr. 4 des TRAUMBUCHES ist fertig; die ursprüngliche Konzeption war während der Arbeit hinfällig geworden –

16. 3.

‚Luftwurzeln’, nur dies eine Wort hat Wolfgang Hegewald als Assoziation beim Hören von „Unberührt von Gedanken“ –

17. 3.

manche Musik stört nicht, sie verlässt die Gehörgänge fast ohne Widerhaken –

mich verfolgt den ganzen Abend das geträumte Ticken der Uhren –

19. 3.

gibt es so etwas wie künstlerischen Instinkt? –

vielleicht nur in der Musik und Malerei wird der Entstehungsprozeß mitbestimmt vom Unterbewußten des Augenblicks, der nicht berechenbaren Spantaneität beim Schöpfungsakt –

gerade das Unaussprechliche macht die Kraft aus, die uns beim Erleben von Kunst so berührt, weil unser Innerstes zum eigenen Erschrecken und Glück auf nicht benennnbare Art und Weise geöffnet wurde –

Kunst ohne Geheimnisse ist undenkbar –

je mehr uns ein Kunstwerk etwas mitgeteilt hat (uns angesprochen hat), umso mehr wird das Reden über es zu einem Straucheln an der Oberfläche der Wahrheit –

22. 3.

noch löst Ivo Pogerelich seine Horowitz-Ambitionen nicht ganz ein ... –

23. 3.

ich bin restlos beglückt, wie David Smeyers das MORGENLIED spielt, derart intensiv wird kaum ein anderer die Spannung über das ins Extrem gedehnte tastende Suchn halten können, die Melodie in ihrer Reinheit und Schlichtheit berückender aussingen können! (bei ihm dauert das Stück gute 13 Minuten; ich hatte etwa 9 Minuten veranschlagt; nicht ich, sondern er hat recht!) –

immer wieder suche ich tagelang nach einem Klang, dem Hauptklang, dessen Färbung mir nur im Ungefähren vorschwebt, von dem aber alles bestimmt wird, der eine Stimmung möglichst genau einfangen soll (Klangnäherung) –

24. 3.

wie oft passiert das: wenn man komponiert, verliert man das, was man gehört hat (Klangentfernung) –

25. 3.

ich beginne mit der Ausarbeitung der Reinschrift, um das beim Skizzieren nur für mich entschlüsselbar Mitgedachte nicht wieder zu verlieren –

27. 3.

so könnte (muß) der Orchesterschluß von Nr. 6 gehen: ein bizarrer, fünffach verzahnter Mixturkanon, klanglich ins Groteske verfremdet, über chromatisch fallende Baßtremoli, kontrapunktiert von grellen Blechbläserakzenten und harten trockenen Beckenschlägen –

29. 3.

eine Mahler-Sinfonie im Konzert zu hören, ist für mich immer wieder eine an- und aufregende Lektion in Instrumentationskunst –

31. 3.

Korrekturlesen statt Komponieren –

1. 4.

EINSicht und ZWEIfel belagern DREIst mein klaVIER –

3. 4.

Sprachlähmung an Tasten –

10. 4.

körperlich geschwächt, fiebrig angeschlagen, müde; wir verlassen die Villa Massimo nur zur UA (Nr. VII aus ATEMWENDE) –

immer wieder Pech mit dem Instrument bei den Aufführungen der Klavierstücke: heute erstickt das Kontra-C, wie von einem Staubtuch gedämpft endet jede Phrase im Baß, und der ‚Lichtton’ (fis) ‚glänzt’ nur durch Unreinheit  (das Klavierstimmen wurde nicht in Rom erfunden...) –

wenn einem Komponisten nichts mehr einfällt, tritt er eine Idee breit –

11. 4.

die Ausdruckswelt der Klanggestalten von EINSAMKEIT bekommt durch die Kirchenakustik eine noch zwingendere Intensität –

die vier pp-Schläge des Tamtams noch im Ohr trage ich dies mich magisch anziehende Instrument über die nächtlich belebte Piazza Venezia zum Orchesterbus –

13. 4.

wir sitzen im Parkett der Eitelkeiten; das Konzert als angenehme Nebensache zur Einrahmung eines Pausen-Buffets –

19. 4.

für mich ist Musik die Verlängerung der Sprache mit anderen Mitteln; ihre Mitteilung ist keine abgebildete Wirklichkeit, sondern sie schafft eine eigene (klangliche, räumliche, zeitliche) Wirklichkeit, bei der im Idealfall Komponist, Interpret und Hörer – wie drei Saiten ein und desselben Instrumentes gleichzeitig berührt – eine geistige Einheit bilden –

20. 4.

(weitergedacht): wenn Kunst die Verlängerung der Sprache mit anderen Mitteln, eine gesteigerte Art der Wahrnehmung und Kommunikation ist, dann ist vielleicht Glaube (Gott) eine Verlängerung der Kunst auf einer anderen, höheren Ebene, das imaginär magnetische Ziel, das wir mit unserer Kunst suchen (Jawlensky: alle Kunst ist Suche nach Gott) –

21. 4.

der eigene Maßstab (das schon Erreichte) steht als Hindernis im Weg –

die Zufriedensten (nicht Glücklichsten!) sind vielleicht die, die mit einem gewissen Selbstbetrug das Denken ausgeschaltet haben –

22. 4.

ein Stück Berlin in Trastevere und Beethoven ist auch dabei ... –

23. 4.

als Zeitgenosse gegen den Zeitgeist schreiben –

ich sehne mich nach ganz leisen Tönen –

24. 4.

und wieder: ferner Klang – Klangferne, getönter Traum – Traumton –

27. 4.

logische Wortfindung: in der Literatur ist jemand be-lesen, in der Musik be-hört, in der Malerei be-sehen –

29. 4.

Instrumentation ist zwar meine Spezialität, aber immer eine in bedächtiger Langsamkeit vorgehende Anstrengung –

1. 5.

im Garten intoniert ein Singvogel quintverschoben immer wieder den ersten Motivkopf der Beethovenschen Violinsonate op. 96 –

Merkmal künstlerischer Qualität ist, wenn Reduktion nicht Verkümmerung, sondern Konzentration bedeutet und wenn Ideenreichtum nicht in beziehungslose Überfülle umkippt, sondern vielfältig kontrapunktische Gedankenverdichtung ist –

2. 5.

Glenn-Gould-Ausstellung im Palazzo  Braschi: G. G. hat mir seinerzeit die Musik von Bach wieder in all ihrer Größe und Einmaligkeit ins Bewusstsein zurückgeholt; man kann sich die Bachsche Kontrapunktik nicht transparenter, kristalliner, expressiver und differenzierter vorstellen als unter seinen Fingern, deren Anschlagskultur jede feinste Nuance möglich und hörbar macht; und wenn er das 5, Klavierkonzert oder die Sonate op. 110 von Beethoven spielt, ist man geneigt, seine verbalen Ausfälle gegen diesen Komponisten zu vergessen, man versteht sie nicht mehr, sein Spiel entkräftet und widerlegt sie!; seine oft als eigenwillig nachgesagte Lesart von Musik überzeugt und fesselt –

nur geträumt: G. G. spielt Nr. 5 aus ATEMWENDE ... –

5. 5.

nur Übertreibung schält die Wahrheit heraus –

6. 5.

Hirnverspannungen beim langsamen Schreiben und der graue regnerische Tag macht depressiv –

das Arbeiten hört nicht beim Verlassen des Schreibtisches auf –

7. 5.

Inventionen:

manche Minimal-Music macht mich müde, meist Marotte, Manierismus mit mangelhaften Mitteln –

kraft künstlerischer Krisen kritisch: Kontrapunkt kann Kunst krönen –

Suchen sichert Sensibilität, sodann Selbstbewusstsein –

9. 5.

endlich wieder einmal ein Doppelstrich –

gleich schwer, wenn man unter die Oberfläche geht: ein Buch, eine Partitur, ein Bild lesen –

10. 5.

eine harmonische Fundgrube: das „Crucifixus“ und „Confiteor“ der h-moll Messe muß ich unbedingt noch einmal genau lesen! –

11. 5.

ein spielerischer Einfall macht allein noch keine gute Musik –

die ästhetische Spielbandbreite der offenen kompositorischen Form bleibt mir auf Dauer zu klein –

12. 5.

kreisen um ‚as/gis’ ... immer wieder dieser Ton ... er setzt sich fest, mit bohrender Kraft ... weitet sich zu Seufzer-Melismen ... eine kompositorische Keimzelle wächst ... –

Eingrenzung: alles Unwesentliche wegstreichen, kein kulinarisches Beiwerk –

18. 5.

die leichtere Lösung eines Problems ist nicht zwingend die bessere; also: weiterdenken ... genauer in mich hineinhorchen –

19. 5.

Klangwogen, Klangfluten überschwemmen mein Papier –

21. 5.

das Weitere ist angeträumt –

24. 5.

Form schafft die notwendige Distanz, denn konstruktives Denken begrenzt eine allzu ausufernde Subjektivität, nur so gelingt der Balanceakt zwischen Expressivität und Kalkül –

31. 5.

ich habe die Uraufführung eines von mir noch nicht geschriebenen Stückes geträumt, das Wachwerden hat das Klangbild wieder undeutlich werden lassen, die Realität des Unterbewußten verwischt –

2. 6.

Nichtstun ist anstrengend; Passivität ermüdet –

3. 6.

Krawatten-Idee: Kunst & Krempel, Literatur & Leben, Musik & Magie, Malerei & Martyrium; Skulptur & Skandal –

4. 6.

Brahms-Requiem-Hören macht Gänsehaut –

5. 6.

der nicht zu Ende behandelte Klangblock liegt zur Fertigstellung bereit –

6. 6.

noch zögert die Feder, die Konturen zu schärfen –

7. 6.

Insistieren auf der Schlaufe, und trotzdem, die serielle Malerei hat immer Tuchfühlung zum Tapetenmuster –

9. 6.

biographische Funde: die Großplastik „Feuervogel“ (von K.-H. Kr.) wurde in blindem Vandalismus abgebrochen, in den Rhein geworfen, später aber wieder aufgebaut. St. v. R. empfing erste wichtige Kunsteindrücke von Edgar Ende, später von einem kongolesischen Müllschlucker auf der Brüsseler Weltausstellung –

... und wie wird ein Gedicht vor Vertonung geschützt, schreibt der Dichter ... und wie wird Musik vor der Beschreibung geschützt, denkt der Komponist ... –

11. 6.

falsche Noten verzeihe ich gerne, wenn die musikalische Geste stimmt –

die Quinte brennt sich in den Gehörgang –

12. 6.

ich bin ein ‚Post-Darmstädter’ und schreibe mit dem Rücken zu Darmstadt –

im Prediger-Ton nachdenken über das amtlich sanktionierte Irrenhaus überbietet selbstgefällige Statements beim Nicht-Gespräch (der Denker Schnebel hat mir schon immer gefallen!...) –

15. 6.

vielleicht noch nie war meine Musik so radikal auf so wenige Töne reduziert –

16. 6.

Sotto voce: ich registriere / präpariere das Klavier für eine fremde, ferne, stille Klangwelt (Gedanken-Insel) –

22. 6.

die Erinnerungen ziehen ungeordnet in Assoziativketten vorüber –

23. 6.

das Zeit-Empfinden wird gestaucht: Verwirr-Spiel des Raum-Erlebnisses –

24. 6.

die Flüchtigkeit des Augenblicks vibriert im Nachhören –

die Stille wird nur möglich und erfahrbar durch den Kontrast zum schreckhaften Aufblitzen unberechenbar einbrechender Klangereignisse, sie erst erfüllen das Nichtklingen mit sprechender Intensität –

(UA von „Y sobre los instantes...“ in Köln) –

25. 6.

die Zimmermann-Nacht in Köln ist wohl mehr als nur eine posthume Wiedergutmachung –

29. 6.

und wieder für 14 Stunden Fahrt das Mozart-Divertimento im Kopf –

ich höre die Lautheit der absoluten Stille –

1. 7.

ohne Worte gäbe es keine Gedanken, wohl aber gibt es Gedanken ohne Worte: stummer Monolog –

ohne Töne gäbe es keine Musik, wohl aber gibt es Musik ohne Töne: inneres Hören –

der stumme Monolog und das innere Hören sind reicher in der Intensität als das gesprochene Wort oder der klingende Ton –

der stumme Monolog und das innere Hören kennen keine Logik –

der ausgesprochene Gedanke und die tönende Musik können nur das mehr oder weniger verdichtete und gleichzeitig verzerrende Spiegelbild der inneren Realität sein –

2. 7.

ich versuche, etwas von dem magischen Zauber der inneren Klang-Realität in die Wirklichkeit der notierten Musik herüberzuretten –

die stete Wiederkehr eines musikalischen Fragezeichens durchzieht den Tag in unaufhörlicher Eindringlichkeit –

zweimal durchkreuzt ein Flugzeug die vierte Bach-Suite –

3. 7.

plötzlich und in unerwarteter Zufälligkeit entfernt sich das schon Gehörte, wird zersetzt von Bach-Fragmenten (Goldbergvariation Nr. 25), deren zeitlose Entrücktheit, Schönheit, aufregende Kantabilität und verinnerlichte Expressivität sich mit meinem „sotto voce“-Klang verweben; wie eine ferne Liebeserklärung ist dieser Gesang, die Begleitmusik meiner kleinen Melancholie, aufgetaucht ... –

4. 7.

Klang auf der Suche nach Sprachwerdung, Komponieren wie Kernspaltung des Ton-Atoms

5. 7.

in zarter Langsamkeit entfaltet sich um die eigene Achse drehend und schwebend eine Klanginsel –

Blitz und Donner fallen in zischendem Knall zusammen, die geballte akustische Energie durchzuckt die stillen Töne meiner Versunkenheit –

zwischen zwei Akazienblätter eingeklemmt sehe ich den Mond wandern, und der enge Lichtkreis der Kerze weitet die innere Wahrnehmung –

9. 7.

vor dem Auftritt können die angenehmsten Musiker zu empfindlichen Mimosen werden –

Saxophonquartett mit Natur- und Umweltlauten: Schwalbenschreie zum zweistimmigen Choral, eine Autohupe füllt die Generalpause, der leise Schlußton erlischt im Grillenzirpen, ein Telefon läutet den Beginn des nächsten Satzes ein, und immer wieder rhythmisiert im Crescendo und Decrescendo ein Hubschrauber die Luft in Interferenz zum Metrum der Musik –

10. 7.

wie schnell wird Meditation mit Berieselung verwechselt, Ausschalten des Denkens als Versunkenheit missverstanden –

11. 7.

selten hat mich das Aufeinanderprallen von Musik und Bewegung so angewidert: die choreographische Vergewaltigung der h-moll Messe ist eine künstlerische Unanständigkeit höchsten Grades! –

12. 7.

Überkontrapunktik verwischt auf Dauer die Konturen in ein Einheitsgrau des Klangbildes, das Ohr ermüdet und beginnt sich zu langweilen –

13. 7.

es gibt tatsächlich ärgerliche und überflüssige Musik, z. B. „Piano-Archipel“: dummes Hummel-Gefummel, verstummelter Klassikbummel, improvisummeltes Pummeltpouri vom heruntergekummelten Klavierspummel –

16. 7.

nur hin und wieder hört man ein paar Bártok-Musik-Fetzen, luftgefiltert, von Pinien und Zypressen getrockneter Klang, ersticktes Forte (für das Boulez-Konzert in der Villa Medici eine knappe Stunde vergeblich angestanden) –

17. 7.

zeitenthoben zu Ende skizziert, die Welt ferner Töne, zwischen meditieren, insistieren, assoziieren, variieren, kombinieren, augmentieren, fragmentieren –

die subkutane Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Gedankenströme mit progressiver Veränderung wird in sich vergrößernden Kreisbahnen abgetastet und hörbar gemacht –

20. 7.

der Schweiß fließt von den Schläfen über die Brillenbügel und tropft auf das Notenpapier (Reinschrift im römischen Sommer) –

22. 7.

um zwanzigvorsechs erwache ich mit überraschend klarem und frischem Kopf, das Morgengrauen und die angenehme Kühle (nur 21 Grad) verlocken mich, aufzustehen, und zu dieser Stunde ist das Arbeiten geradezu ein Vergnügen... –

SOTTO VOCE: „unter der Stimme“, Unterstimme, mit gedämpfter Stimme, unterdrückte Stimme, erstickte Stimme, erstickter Gesang, verhaltener Gesang, ferner Gesang, ferne Stimme... –

schon wieder ein Klavierstück, und doch auch diesmal, es war ein zähes Ringen, ein nur langsames Ertasten neuer Klangbereiche, vielleicht eine Implosion des Celan-Zyklus’ ... –

26. 7.

eine Alarmanlage, parabelförmig sich in den Abständen ihres erneut sinnlosen Erklingens verkürzend, foltert tritonus-anschleichend den Abend –

28. 7.

vielleicht auch ein Glücksfall: als Komponist habe ich noch von keinem Kollegen meiner Generation Musik gehört, von der ich mir wünschte, ich hätte sie geschrieben (müsste ich dann das Komponieren nicht drangeben?!...) –

Komponieren ist verschlüsselte Preisgabe des Innersten –

Rechenschaft, Dokumentation, Komponieren als Zustandsbeschreibung –

als Gegengift zum Ernst der Arbeit braucht man manchmal die Ausgelassenheit der Gedanken –

leeres Weinglas und leere Weinflasche fallen aus dem Zusammenklang als kleine Septime in die wohlige große Sext der quietschenden Bettfedern –

29. 7.

Empfehlung: das gerade Geschriebene sofort vergessen, damit der Kopf wieder frei ist für Neues; oder: sofort an Neues denken, um das eben Geschriebenen zu vergessen –

einen Kunstbegriff hat man nicht, man definiert ihn mit jedem Werk neu –

30. 7.

Musik ist ein Brennglas, kein Spiegel (frei nach W. Schnurre), und auch: gehört bin ich gerettet –

31. 7.

skizziert steht erst die fragmentarische Formulierung von Musik –

2. 8.

leider kann nur ich meine Skizzen zur Ausarbeitung in Reinschrift entschlüsseln ... also: an die Arbeit! –

4. 8.

eine rhythmisch prägnante Struktur hat eher eine unerbittliche Härte als die wildesten komplexesten Klangentfesselungen –

Tageswerk: zweieinhalb Partiturseiten, 17 Takte, 27 Sekunden Musik (gearbeitet etwa sieben Stunden!) –

6. 8.

zur nachmitternächtlichen Stunde höre ich Walter bei Giso über SOTTO VOCE improvisieren –

10. 8.

draußen im Park beginnt eine Zikade im langsamen Accelerando ihr lautes penetrantes Schrappen, dessen gleichförmiger Rhythmus sich plötzlich mit den schnellen Triolenfiguren deckt, die mein Notenpapier schwärzen –

11. 8.

eine weitere Etappe auf einem langen Weg ist zurückgelegt, mit angenehmer Erschöpfung ziehe ich den Schlussstrich –

langsam die letzten 20 Partiturseiten blätternd zieht ein wilder, greller Totentanz an meinem inneren Ohr vorüber –

12. 8.

der langsame Satz aus Haydns op. 76 Nr. 6 begleitet mit wieder(ge)holten Erinnerungen meinen Tag –

nur nicht ausruhen und verschnaufen; die Energieladung ausnutzen! –

Klangprozesse: Klangahnung, Klangnäherung, Klangfindung, Klangentrückung, Klangzersetzung, Klangerinnerung (vielleicht die Beschreibung einer möglichen Musik ... oder der eigentliche Vorgang beim Komponieren) –

13. 8.

Klangoppulenz und Pathos bewegen sich bei der 3. Sinfonie von Lutoslaski eindeutig vor der Grenze des Kitsches; das Raffinement der Instrumentation besticht sowohl durch filigranste Zeichnung als auch durch Transparenz selbst bei größter Klangdichte –

gute Musik hat stets auch Bekenntnischarakter –

14. 8.

Kunst ist die fragmentarische Aufzeichnungen und Formulierung einer Utopie –

alle Kunst hat mit Gestaltung von Raum zu tun: die Architektur definiert den Raum in seiner gestalteten Eingrenzung, die Musik erfüllt den Zeit-Raum mit Klanggestalten, die Malerei illusioniert den erdachten oder gespiegelten Bild-Raum. Die Literatur schafft den Gedanken-Raum und weitet ihn im glücklichsten Fall zur Philosophie –

15. 8.

der überdimensionierte Schreckensklang der Orchestereinleitung zum TRAUMBUCH muß ein letztes Mal, jetzt in einer intervallischen Verschiebung und Variante auf dem Grundton ‚d’, mit erschlagender Brutalität und Härte auf den Hörer einbrechen (wie ein letzter Kommentar aus dem reinen Orchestersatz) und dann im Klangabbau über einen gedehnten Herz-Rhythmus, der schließlich unvermittelt abbricht, überleiten zum abschließenden verklärten Gesang und zur abgrundtiefen Monotonie eines Trauer-Gehäuses –

der Choral als versiegender Schrei –

16. 8.

Nr. 14 ist fertig, und ich brauche Zeit zur Regeneration –

18. 8.

Sprachlosigkeit nach dem Hören als tiefstes Lob, Innehalten aus Betroffenheit; warum reden, das den Eindruck nur ins Banale verwässern könnte –

Vergänglichkeit  und Sehnsucht sind durch die Flüchtigkeit der akustischen Gestaltwerdung von Musik in ihr selbst eingeschrieben –

ein Stück Musikgeschichte ist zu Ende gegangen: das Amadeus-Quartett existiert nicht mehr; mit Entsetzen und Erschütterung lese ich die Nachrufe auf den unerwarteten Tod von Peter Schidlof bei der abendlichen Zeitungslektüre; nicht nur ein Musiker ist gestorben, ein ganzes Quartett ist für immer verstummt –

denkwürdiger Zufall: ich arbeitete heute an einem Streichquartett-Satz, der ein entrücktes, abgeklärtes D-Dur als Allusion anstimmt –

19. 8.

nur wer den Abgrund kennt, weiß, was ein Höhenflug ist –

20. 8.

konzessionslos, ungeschönt, ungeglättet, beseelt, jede Note durchlebt und durchlitten: nur so musiziert kann eine eindringliche und ergreifende Interpretation gelingen –

23. 8.

aus dem Flirt mit der Tonalität ist schon so mancher Komponist in eine voreilige und unbedachte Eheschließung mit dem platten Wohlklang gerutscht; der vermeintliche Liebesentzug von Harmonie hat ihn blind werden lassen für die wahre Schönheit, die immer flüchtig und vergänglich ist –

24. 8.

Ruinen haben ihren eigenen unwiderstehlichen Zauber; beim Begehen des Forum Romanums wird mir klar, daß die Bach-Fragmente in SOTTO VOCE etwas Ähnliches sind, wie das, was ich hier sehe: angedeutet Vergangenes, das Sehnsucht macht (also: der römische Einfluß auf meine Musik!) –

25. 8.

nun hänge ich och noch einmal durch, stecke in Form-Zweifeln –

26. 8.

eine gut durchgehörte Partitur ist wie eine gelungene ‚Lichtsituation’ –

Ekstase und Betäubung sind nicht dasselbe –

27. 8.

wieder unterwegs Mozarts Divertimento im Kopf, diesmal nordwärts... –

7. 9.

heute sitze ich vermutlich das letzte Mal ganztägig am Schreibtisch –

8. 9.

um 10.38 Uhr fallen mit dem letzten Doppelstrich die Tuschefüller erleichtert aus der Hand; jetzt, wie immer, bei Wein und Pfeife Mozart KV 464 hören: alles abstreifen, inneres Reinigen mit A-Dur –

heute erfahre ich vom Tode Wolfgang Fortners, gestern stand ein Nachruf auf Morton Feldman in der Zeitung –

12. 9.

beobachte an mir, daß ich ohne geistige Arbeit körperlich erschöpfter bin als im Zustand der Konzentration und Anspannung –

noch mag ich nicht meine römische Restzeit an das Akkordeon verschwenden .. –

17. 9.

erst entwurzelt kann man neue Wurzeln schlagen –

18. 9.

Bescheidenheit ist bei Künstlern nicht immer anzutreffen, und nicht nur Erfolg macht eitel –

künstlerische Maßstäbe setzen die Werke selbst, nicht deren Konsumenten oder Kritiker –

19. 9.

heute mit der Gesamtdurchsicht des TRAUMBUCHS begonnen, reicht der zeitliche Abstand schon? –

Korruption ... gibt’s leider auch im Kunstbetrieb ... –

22. 9.

wenn ich schreibe, quäle ich mich, und wenn ich nicht schreibe, quält auch das mich; so wurde ich Komponist –

noch nie vorgekommen: habe noch keine Vorstellung vom nächsten Stück, das TRAUMBUCH hat alle Energien verzehrt –

nur gelegentlich stellen sich wie hinter einer Nebelwand Klangreste ein –

gegenseitiger Respekt heißt notwendigerweise auch künstlerische Distanz halten, gepaart mit Neugierde –

25. 9.

um halbsechs frühmorgens noch ein flüchtiger Blick ins Studio, fünf Töne im Pianissimo am Klavier, und nun wird die Ateliertür unwiderruflich zum letzten Mal zugezogen; im Villino erwartet uns bei Kerzenschein schon Tina zum Frühstück (ach, dieser Kaffee! ...), und um drei Minuten vor sechs schließt sich das große dunkelgrüne Tor hinter uns: ein Jahr Villa Massimo ist zu Ende –

 

 

© 1987 by Michael Denhoff

 

 

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