Lothar Mattner

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„...es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen“

Uraufführung des Klavierzyklus „Atemwende“ nach Paul Celan von  Michael Denhoff

 

Daß die Normativität eines wie auch immer gearteten kompositorischen Ansatzes heute hinfällig geworden ist, daß sich ästhetische Grundpositionen kaum mehr aus einer (paradoxen)) Tradition des Neuen legitimieren lassen, ist zumindest in den letzten Jahren zum common sense geworden - trotz gewisser schon wieder ideologisch verschleierter Moden wie den Minimalismus. Im Pluralismus heutigen Komponierens entpuppen sich auch Begriffe wie gemäßigt als einem teleologischen Fortschrittsdenken verpflichtet, dessen Dogmatismus ästhetische Doktrinen oftmals über kompositorische Innovation stellte.

Das bedeutet nicht, daß sich Komponieren in einem risikofreien Feld abspielt (das bei vielen der „Neoromantiker“ ebenso reflexionsfrei auf Historisches zielt) - zumindest nicht im Fall von Michael Denhoff - 1955 geboren, als Cellist Schüler von Siegfried Palm, als Komponist von Jürg Baur und Hans Werner Henze, nach einem Villa-Massimo-Stipendium als freischaffender Cellist und Komponist in Bonn lebend - Denhoff hat bereits eine ganze Reihe von Werken vorgelegt, deren Spannweite von den traditionellen Gattungen wie Streichquartett, Klaviertrio oder Sinfonia über Werke, die sich in einer sehr eigenartigen Weise der bildenden Kunst annehmen, bis zu Arbeiten reicht, die sich auf Literatur beziehen, Literatur von Rimbaud über Juan Ramón Jimenéz, Horst Bienek bis zu Paul Celan. Die Gedichte - und damit auch die Kompositionen Denhoffs - sind immer von einem bedeutungsvollen Impetus getragen, der sich in der heutigen philosophischen Dissoziation fast schon fremd ausnimmt - man denke an Enzensbergers Ende der Konsequenz, an Odo Marquards Abschied vom Prinzipiellen oder an die Reaktualisierung Nietzsches als Protagonisten einer wilden Autonomie, die bald sicherlich von Italien und Frankreich auch auf Deutschland übergreifen wird; musikalische Vorzeichen hat kürzlich Rihm gesetzt.

Gerade Celans Gedichte sind geprägt durch allerhöchste Artifizialität, gebunden an feinstes Sentiment. Sie erreichen einen Abstraktionsgrad, in dem eine Alteration von Konstruktion und Expression nicht mehr greift, weil sich das Erkennen, die Intellektualität selbst am Rande des Ungesicherten bewegt. Atem, das sagte einmal Celan, sei die Sekunde zwischen schon Nicht mehr und Immer noch und Wende ist immer eine Grenzsituation, etwas irritierend Tastendes, nur schwankend Fixierbares. „Vertonen“ lassen sich Celans Gedichte gewiß kaum (und heute mit den Erfahrungen von Schnebels Lautkompositionen, den Dekompositionen, Atomisierungen von Sprache durch Klaus Huber, den fragmentarischen Miniaturen Kurtágs wohl gar nicht).

Es ist notwendig hier auf Denhoffs „Bilder-Vertonungen“ hinzuweisen. Auch sie (nach Goya, Dürer, Kandinsky) sind keine Illustrationen. Der Zwischenbereich der Künste wird ausgeschöpft oder: Die unmittelbare künstlerische Expression bedient sich unterschiedlicher künstlerischer Ausdrucksformen. So ist auch Denhoffs Celan-.Zyklus die Transformation eines künstlerischen Ausdrucks in ein anderes künstlerisches „Medium“. Bilder sind begrifflich polyvalent, auch Celans Lyrik entzieht sich der begrifflichen Fixierung. Denhoffs Transpositionen sind Allusionen, assoziative Umsetzungen, die - durchaus nicht ambivalent - mit überaus konkreten musikalischen Mitteln arbeiten. Über sieben Stufen, sieben Sätze vollzieht sich eine Annäherung, eine Entzifferung der nahezu hermetischen Texte Celans. Bestimmten Intervallen, der Quinte etwa, kommen assoziative Funktionen zu, die der Reinheit, der Wahrheit, die unter die Menschen getreten ist. Der letzte Satz gar - Fadensonnen - singt von den Liedern jenseits der Menschen: Der Tonraum wird gänzlich ausgespannt, extrem hohe und tiefe Lagen gegeneinander gesetzt, dann die oberen Register langsam nach unten verschoben, es entsteht durch dieses schwerelose Sinken der Eindruck eines „jenseitigen Singens“ - bis zum Al-niente-Schluß (das Ganze wird „thematisch“ durch bestimmte Konstruktionsprinzipen gebunden, durch Einzeltonreminiszenzen, Spiegelungen, unterschiedliche „Tonalitäten“ u. v. a. m.).

Die abstrakten Wort-Symbole Celans erfahren so eine Form der Übersetzung in die musikalische Sphäre, weitab von jedem „Entlangkomponieren“ (obwohl sich formale Prinzipien in der Komposition wiederfinden). Ein Lied ohne Worte oder besser jenseits der Worte, oder wie Michael Denhoff es selbst beschreibt: Das Wort droht zu ersticken, zu verstummen, das Unberührte, das Klare der Gedanken gehört der Vergangenheit an (...) Atemwende: das Wort, der Gedanke, Sprache kippt, steht Kopf, und, wie Celan einmal gesagt hat, „wer auf dem Kopf steht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich“. - Atemwende, Klavierzyklus nach Paul Celan, wurde im November durch den Pianisten Richard Braun in Brühl uraufgeführt.

 

 

in: NZfM, März 1988

 

 

 

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